Vielleicht kennst du das folgende Experiment: Ein Kunststoffstab wird mit einem Tuch gerieben und auf diese Weise elektrisch aufgeladen. Wird der Stab nun in die Nähe eines feinen Wasserstrahls gehalten, so wird der Wasserstrahl abgelenkt (Abb. 1). Doch wie ist dieses Phänomen zu erklären, wenn doch das Wasser-Molekül ein elektrisch neutrales Molekül ist?
Das Wasser-Molekül als Dipol
Das Wasser-Molekül (\(\ce{H_2O}\)) besteht aus zwei Wasserstoff-Atomen, die über Elektronenpaarbindungen mit einem zentralen Sauerstoff-Atom verbunden sind. Das Wasser-Molekül weist aufgrund der Elektronenverteilung innerhalb jedes beteiligten Atoms eine gewinkelte Struktur auf (Abb. 2).
Die Elektronegativität (\(\ce{EN}\)) ist ein relatives Maß für die Fähigkeit eines Atoms in einer chemischen Bindung Elektronen/Elektronenpaare an sich zu ziehen. Je höher der Wert der Elektronegativität, desto stärker zieht das Atom Elektronen zu sich. Das Sauerstoff-Atom hat eine Elektronegativität von \(\ce{3,44}\). Das Wasserstoff-Atom weist hingegen nur eine Elektronegativität von \(\ce{2,2}\) auf. Die Differenz der Elektronegativitäten beträgt somit \(\ce{ΔEN = 1,24}\). Das Sauerstoff-Atom ist deutlich elektronegativer als die Wasserstoff-Atome. Das bedeutet, dass das Sauerstoff-Atom die gemeinsamen Bindungselektronen stärker zu sich hinzieht als die Wasserstoff-Atome. Somit kommt es am Sauerstoff-Atom zu einem Überschuss an Elektronen. Dadurch bildet sich eine negative Teilladung, eine sogenannte Partialladung, aus. Dadurch, dass das Sauerstoff-Atom die Elektronen zu sich hinzieht, kommt es an den Wasserstoff-Atomen zu einem Elektronenmangel. Daher bildet sich bei diesen eine positive Teilladung aus. Teilladungen oder Partialladungen werden mit einem \(\ce{\delta^+}\) (delta plus) für die positive Partialladung bzw. \(\ce{\delta^-}\) (delta minus) für die negative Partialladung gekennzeichnet (Abb. 3). Zwischen diesen unterschiedlich geladenen Polen des Moleküls entsteht entlang der Atombindung ein sogenanntes gerichtetes Dipolmoment \(\ce{(\vec{p})}\). Das Symbol dafür wird als Vektor geschrieben, da das Dipolmoment eine Richtung hat.
Abb. 3 Das Wasser-Molekül als Dipol
Schauen wir nun das Wasser-Molekül an, so befindet sich durch seine gewinkelte Struktur auf einer Seite das partiell negativ geladene Sauerstoff-Atom. Auf der anderen Seite befinden sich die partiell positiv geladenen Wasserstoff-Atome. Das Molekül weist also zwei Pole auf, die unterschiedlich geladen sind und örtlich nicht zusammenfallen. Daher spricht man von einem Dipol-Molekül (= Zwei-Pol-Molekül). Entscheidend dafür, dass das Wasser-Molekül ein Dipol ist, ist seine gewinkelte Struktur.
Kohlenstoffdioxid als Beispiel für ein Nicht-Dipol-Molekül
Es gibt auch Moleküle, wie z. B. das linear aufgebaute Kohlenstoffdioxid-Molekül (Abb. 4), in denen sich auch zwei unterschiedliche Pole ausbilden können. Das zentrale Kohlenstoff-Atom weist eine Elektronegativität von \(\ce{2,55}\) auf. Rechts und links davon ist jeweils ein Sauerstoff-Atom mit einer Elektronegativität von \(\ce{3,44}\) gebunden. Die Differenz der Elektronegativitäten beträgt somit \(\ce{ΔEN = 0,89}\). Die beiden Sauerstoff-Atome sind elektronegativer und ziehen die Elektronen der gemeinsamen Elektronenpaare zu sich. Dadurch kommt es zur Ladungsverschiebung. An den Sauerstoff-Atomen kommt es zur Ausbildung negativer Partialladungen. Am zentralen Kohlenstoff-Atom kommt es zum Elektronenmangel, wodurch sich dort eine positive Partialladung ausbildet. Kohlenstoffdioxid ist aber dennoch kein Dipol-Molekül. Denn durch die lineare Struktur des Kohlenstoffdioxid-Moleküls fallen die unterschiedlichen Pole örtlich zusammen und heben ihre entgegengesetzten Ladungen gegenseitig auf.
Abb. 4 Kohlenstoffdioxid-Molekül
Merkmale eines Dipols
Dipol-Moleküle sind nach außen hin elektrisch neutral. Sie weisen eine polare Elektronenpaarbindung auf. Die Differenz der Elektronegativitäten liegt im Bereich von \(\ce{ΔEN = 0,5 bis 1,7}\). Bei einem Wert unter \(\ce{0,5}\) handelt es sich um eine unpolare Elektronenpaarbindung, bei einem Wert von über \(\ce{1,7}\) hat die Bindung einen ionischen Charakter. Außerdem weisen Dipol-Moleküle einen asymmetrischen strukturellen Aufbau auf, wodurch die unterschiedlichen Ladungsschwerpunkte örtlich nicht zusammenfallen und sich zwei unterschiedlich geladene Pole ausbilden.
Erklärung des Experiments
Wieso wird nun aber der Wasserstrahl in dem Experiment mit dem Kunststoffstab abgelenkt? Durch das Reiben des Stabes mit einem Wolltuch, wird dieser positiv oder negativ aufgeladen. Die Wasser-Moleküle des Wasserstrahls sind, wie wir jetzt wissen, Dipol-Moleküle mit einem positiven und einem negativen Pol. Ist der Stab durch die Reibung negativ aufgeladen, richten sich die Wasser-Moleküle so aus, dass ihre positive Partialladung an den Wasserstoff-Atomen zu dem negativ geladenen Stab hinzeigt. Da sich entgegengesetzte Ladungen anziehen, werden die Wasser-Moleküle von dem Stab angezogen (Abb. 5). Daher können wir beobachten, dass der Wasserstrahl abgelenkt wird. Ist der Stab durch die Reibung positiv aufgeladen, richten sich die Wassermoleküle so aus, dass ihre negative Teilladung am Sauerstoff-Atom zum positiv geladenen Stab zeigt. Da sich diese entgegengesetzten Ladungen anziehen, werden die Wasser-Moleküle vom Stab angezogen. Daher kannst du beobachten, dass der Wasserstrahl abgelenkt wird.
Abb. 5 Animation Wasserstrahl (DongJoon CC BY-SA 4.0 What if the water molecule have a straight structure?)
Zusammenfassung
Ein Dipol-Molekül ist insgesamt ein elektrisch neutrales Molekül, in dem jedoch Elektronen unsymmetrisch verteilt sind (polare Elektronenpaarbindung). Dadurch bilden sich zwei unterschiedlich teilgeladene Pole aus, wovon einer positiv und der andere negativ ist. Der Schwerpunkt dieser Pole fällt örtlich nicht zusammen. So liegt ein Molekül mit zwei Polen vor, woraus sich der der Name Dipol ableitet.